Es passiert oft ganz automatisch. Ein Kind malt ein Bild, und kaum ist es fertig, fragen wir: „Oh, ist das ein Haus? Und da – ist das Mama?“ Oder schlimmer noch: Wir beginnen, zwischen den Linien zu lesen: „Warum hat das Männchen so traurige Augen? Geht’s ihm vielleicht nicht gut?“
Kinderzeichnungen wecken unseren Interpretationsdrang. Wir wollen verstehen, was dahintersteckt. Vor allem Eltern, Pädagog:innen oder Therapeut:innen meinen es gut, wenn sie versuchen, versteckte Botschaften zu entschlüsseln. Aber: Ist das wirklich der richtige Weg? Oder nehmen wir den Bildern damit genau das, was sie so wertvoll macht?
Der Kunstpädagoge Arno Stern hat darauf eine klare Antwort: „Deuten Sie nicht!“ In seiner jahrzehntelangen Arbeit mit Kindern entwickelte er die Philosophie des wertungsfreien Malens und zeigte, wie wichtig es ist, Kinderzeichnungen einfach sein zu lassen – ohne Analyse, ohne Lob, ohne Bewertung.
Doch warum ist das so wichtig? Und was geht verloren, wenn wir jedes Strichmännchen auf die Couch legen?
Kinderzeichnungen sind kein psychologisches Protokoll
Natürlich können Bilder Emotionen widerspiegeln. Aber: Nicht jedes schwarze Haus bedeutet Traurigkeit. Nicht jedes kleine Männchen steht für mangelndes Selbstbewusstsein.
Arno Stern prägte den Begriff der „Formulation“ – eine Art universeller Bildsprache, die unabhängig von Emotionen oder bewussten Aussagen entsteht. Kinder malen nicht, um eine Botschaft zu senden. Sie malen, weil es ihrer inneren Kreativität Ausdruck verleiht.
💡 Stell dir vor: Ein Kind malt einen Drachen mit drei Köpfen. Muss das bedeuten, dass es Ängste hat? Nein. Vielleicht hat es gestern eine Geschichte gehört. Vielleicht fand es die Idee von drei Köpfen einfach cool. Wir wissen es nicht – und genau das ist okay.
Was passiert, wenn wir Bilder interpretieren?
Kinder beginnen, für andere zu malen.
Sobald sie merken, dass ihre Bilder beurteilt werden, malen sie nicht mehr aus freiem Impuls, sondern denken: „Was gefällt Mama? Was findet der Lehrer schön?“ Die kreative Freiheit schwindet – und mit ihr der Zugang zur eigenen Ausdruckskraft.Fehlinterpretationen können verunsichern.
Wenn Erwachsene aus harmlosen Kritzeleien tiefe psychologische Probleme lesen, kann das Kinder verwirren oder sogar stigmatisieren. „Habe ich wirklich ein Problem? Warum finden meine Eltern mein Bild so komisch?“Der kreative Prozess wird gestört.
Statt sich im Malen zu verlieren, wird das Kind bewusst. Es denkt darüber nach, wie sein Bild wirkt – und verliert den Flow-Zustand, der so wichtig für die kreative Entfaltung ist.
Warum wertungsfreies Malen so wichtig ist
Arno Stern erkannte in seinem „Malort“ – einem Raum, in dem Kinder frei und ohne Bewertung malen konnten – etwas Besonderes: Kinder brauchen Räume, in denen sie einfach erschaffen dürfen, ohne Erwartungsdruck.
- Es stärkt ihre Eigenständigkeit. Kinder erleben sich als Schöpfer:innen ihrer eigenen Welt.
- Es fördert innere Stabilität. Der Fokus liegt nicht darauf, ein „schönes“ Ergebnis zu erzielen, sondern auf dem kreativen Prozess.
- Es schafft emotionale Freiheit. Kinder dürfen alles malen – Monster, Regenbögen oder einfach nur bunte Linien – ohne dass jemand fragt: „Warum?“
Aber was, wenn ich verstehen will, wie es meinem Kind geht?
Natürlich ist es wichtig, einfühlsam zu sein. Aber statt ein Bild zu interpretieren, frag lieber offen und wertfrei:
✨ „Magst du mir erzählen, was du gemalt hast?“
✨ „Welche Farben gefallen dir gerade am meisten?“
✨ „Hast du Spaß beim Malen gehabt?“
So gibst du deinem Kind Raum, selbst zu entscheiden, ob es etwas teilen möchte – oder nicht.
Weniger deuten, mehr staunen
Kinderzeichnungen sind keine verschlüsselten Hilferufe oder Botschaften. Sie sind pure Kreativität. Wenn wir ihnen mit Neugier statt Analyse begegnen, schenken wir Kindern etwas Wertvolles: Die Freiheit, sich auszudrücken – ohne bewertet oder missverstanden zu werden.
Lass das Bild ein Bild sein. Kein Test. Kein Rätsel. Sondern einfach der Ausdruck eines Moments.
Denn oft ist die schönste Frage nach dem Malen nicht: „Was bedeutet das?“
Sondern: „Hattest du Spaß?“